This is a read only archive of pad.okfn.org. See the shutdown announcement for details.

sid-lesung-texte-GO2 George Orwell: 1984
https://archive.org/stream/Gorwellbeutew1/Gorwellbeutew1_djvu.txt

Ein  dystopischer Roman, in dem ein totalitärer Präventions- und  Überwachungsstaat im Jahre 1984 dargestellt wird. Protagonist der Handlung ist Winston Smith, ein einfaches Mitglied der diktatorisch herrschenden sozialistischen Staatspartei, der sich der allgegenwärtigen Überwachung zum Trotz seine Privatsphäre sichern will und dadurch in Konflikt mit dem System gerät, das ihn einer Gehirnwäsche unterzieht.

S. 8-9
Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein ganz leises Flüstern hinausging, wurde von ihm registriert. Außerdem konnte Winston, solange er in dem von der Metallplatte beherrschten Sichtfeld blieb, nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden. Es  bestand natürlich keine Möglichkeit festzustellen, ob man in einem gegebenen Augenblick gerade überwacht wurde. Wie oft und nach welchem System die Gedankenpolizei sich in einen Privatapparat einschaltete, blieb der Mutmaßung überlassen. Es war sogar möglich, daß jeder einzelne ständig überwacht wurde. Auf alle Fälle aber konnte sie sich, wenn sie es wollte, jederzeit  in einen Apparat einschalten. Man mußte in der Annahme leben, und man stellte sich tatsächlich instinktiv darauf ein, daß jedes Geräusch, das man machte, überhört und, außer in der Dunkelheit, jede Bewegung beobachtet wurde. Winston richtete es so ein, daß er dem Televisor den Rücken zuwandte. Das war sicherer, wenn auch, wie er wohl wußte, sogar ein Rücken verräterisch sein konnte. 

S. 12-13
Aus irgendeinem Grunde war der Televisor in seinem Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle angebracht. Statt wie üblich an der kürzeren Wand, von wo aus er den ganzen Raum beherrscht hätte, war er an der Längswand gegenüber dem Fenster eingelassen. An seiner einen Seite befand sich die kleine Nische, in der Winston jetzt saß und die vermutlich beim Bau der Wohnung für ein Bücherregal bestimmt gewesen war. Wenn er sich so in die Nische setzte und vorsichtig im Hintergrund hielt, konnte Winston, wenigstens  visuell, außer Reichweite des 
Televisors bleiben. Er konnte zwar gehört, aber, solange er in seiner Stellung verharrte, nicht gesehen werden. Die ungewöhnliche Anlage des Zimmers war zum Teil für den Gedanken verantwortlich, zu dessen Verwirklichung er jetzt schritt. 

Doch auch das Tagebuch, das er soeben aus der Schublade hervorgezogen hatte,  war mit daran schuld. Es war ein ganz besonders schönes Tagebuch. Sein milchweißes Papier, schon ein wenig  vergilbt, war von einer Qualität, wie sie seit wenigstens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt worden war. Er hatte jedoch Grund zu der  Annahme, daß „das Buch" noch weit älter war. Er hatte es in der Auslage eines muffigen kleinen Altwarengeschäfts in einem der  Elendsviertel der Stadt (in welchem Viertel, hätte er jetzt nicht mehr  sagen können) liegen gesehen und war sofort von  dem brennenden Wunsch beseelt worden, es zu besitzen. Von Parteimitgliedern wurde erwartet, daß sie nicht in gewöhnlichen Läden  einkauften (»Geschäfte auf dem freien Markt machten«, wie die Formel lautete), aber die Vorschrift wurde nicht streng eingehalten, denn es gab verschiedene Dinge, wie Schuhbänder oder Rasierklingen, die man sich unmöglich auf  andere Weise beschaffen konnte. Er hatte einen raschen Blick die Straße hinauf- und hinuntergeworfen, dann war er hineingeschlüpft und hatte „das Buch" für zwei Dollar fünfzig erstanden. Damals hatte ihm noch kein Zweck dafür vorgeschwebt. Er hatte es schuldbewusst in seiner Mappe heimgetragen. Selbst unbeschrieben war es schon ein gefährlicher Besitz. 

Nun war er im Begriff, ein Tagebuch anzulegen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, da es ja keine Gesetze mehr gab), aber falls es herauskam, war er so gut wie sicher, daß es mit dem Tode oder  zumindest fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeitslager geahndet werden würde. Winston steckte eine Stahlfeder in den Halter und feuchtete sie mit der Zunge an. Die Feder war ein vorsintflutliches  Instrument, das selbst zu Unterschriften nur noch selten verwendet  wurde, und er hatte sich heimlich und mit einiger Schwierigkeit eine  besorgt, ganz einfach aus dem Gefühl heraus,  daß das wundervolle glatte Papier es verdiente, mit einer richtigen Feder beschrieben, statt mit einem Tintenblei bekritzelt zu werden. Tatsächlich war er nicht mehr gewöhnt, mit der Hand zu  schreiben. Abgesehen von ganz kurzen Notizen war es üblich, alles in den Sprechschreiber zu diktieren, aber das war natürlich in diesem Fall unmöglich. Er tauchte die Feder in die Tinte und stockte  noch eine Sekunde. Ein Schauer war ihm über den Rücken gelaufen. Der erste Federstrich über das Papier war die entscheidende Handlung. In kleinen unbeholfenen Buchstaben schrieb er: 4. April 1984. 

S. 80-81
Der schlimmste Feind, mit dem man es zu tun hatte, überlegte er, waren die eigenen Nerven. Jeden Augenblick konnte die innere Spannung sich in einem äußeren Symptom verraten. Ihm fiel ein Mann  ein, an dem er vor ein paar Wochen auf der Straße vorbeigegangen war: ein ganz alltäglich aussehender Mann, ein Parteimitglied von fünfunddreißig oder vierzig Jahren, ziemlich groß und mager, eine Aktentasche unterm Arm. Sie waren ein paar Meter  voneinander entfernt gewesen, als die linke Gesichtshälfte des Mannes plötzlich in krampfhafte Zuckungen geriet. Das gleiche hatte sich noch einmal gerade in dem Augenblick wiederholt, als sie aneinander vorbeigekommen waren: es war nur ein kurzes Zittern, ein Zucken, so schnell wie das  Klicken eines Fotoapparats, aber offenbar chronisch. Er erinnerte sich, daß er damals gedacht hatte: Der arme Teufel ist geliefert! Und das Erschreckende daran war, daß es sich höchstwahrscheinlich  um einen unbewußten Vorgang handelte. Die allergrößte Gefahr war, im Schlaf zu sprechen. Soviel er wußte, gab es keine Möglichkeit, sich dagegen irgendwie zu schützen.