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sid-lesung-texte-FR Von Daten und Macht - Essay
Frank Rieger, 3.4.2013

Textabschnitte für Lesung - 1. Einleitung:

Die Debatten um Datenschutz und Privatsphäre haben in den vergangenen Jahren an Intensität und Breite gewonnen. Sie flammen an vielen Stellen auf, die  zuvor noch gar nicht im  Blickfeld der Öffentlichkeit standen. Parallel dazu und gern auch leichtfertig vermischt damit geht es um die Kontrolle des Staates und  großer Unternehmen durch mehr Transparenz. Die Konfusion ist  verständlich. Implizit argumentieren Behörden gerne  damit, dass sich sowieso alle im Internet entblößen. Deswegen solle man sich nicht so  haben, wenn der Staat auch noch ein paar Daten will. Die Reinform dieser Ansicht findet sich etwa beim Vizepräsident des Bundeskriminalamts, der gern postuliert, wer online sei, habe ohnehin sein Recht auf Privatsphäre verwirkt. Verbündete in dieser Weltsicht  sind die großen Internetunternehmen, die gerne so viel Daten horten, erfassen und speichern, wie sie können. Zumindest bei den Unternehmen folgt dieser Drang einem klaren Ziel: Je besser man den Menschen kennt, desto gezielter kann man ihn durch Werbung zum Kauf von Produkten und Dienstleistungen anregen. [...]

Häufig wird von den Leuten, die am meisten daran verdienen, so getan, als wäre es quasi  Naturgesetz, dass der Verlust der Privatsphäre  eine unweigerliche Folge  des Einsatzes von Computern und Netzen ist. Das dahinter stehende Profitmotiv wird öffentlich ungern diskutiert. Wer spricht schon über Geld, wenn es doch vordergründig um mehr Freiheit,  besseren Kontakt zu Freunden, um den Zugriff auf das Wissen der gesamten Welt geht? Es ist schließlich auch vollständig unrealistisch, sich von den Segnungen des  digitalen Zeitalters abzukapseln und das Leben eines Eremiten zu führen. Es ist jedoch essenziell, in den Debatten um die Aushandlung der neuen sozialen Normen über die Hintergründe und die Ziele der Akteure Bescheid zu wissen. Es geht nicht nur um Geld, es geht  auch um Macht.

Daten sind Macht. Vielfach wird naiverweise so getan, als seien Google, Facebook, Apple und Co. doch nur harmlose Unternehmen, die niemandem etwas zuleide tun und einfach ein wenig Geld verdienen wollen. Doch machen wir uns nichts vor: Die Vielfalt der Informationen über den Einzelnen, seine Vorlieben, seine politische Einstellung, seine Kommunikationspartner, sein Lebensumfeld, seine Partner und Freunde, seine finanziellen Möglichkeiten, seine typischen Bewegungsmuster, seine  Ansichten zu grundlegenden moralischen und ethischen Fragen – all das sind Informationen, die nicht umsonst seit Jahrhunderten von Geheimdiensten und anderen Machtapparaten gesammelt werden. Dabei geht es nicht unbedingt um die klassische Erpressbarkeit. Dieser Aspekt bleibt meist staatlichen Geheimdiensten und von ihnen beauftragten privaten Sicherheitsdienstleistern vorbehalten.

Worum  es den Internetkonzernen geht, ist das Leben des Einzelnen für die selbstlernenden Algorithmen ihrer zukünftigen Produkte zu erschließen. Der nächste große Schritt nach Suchmaschine, sozialem Netzwerk und mobilen Applikationen ist der "intelligente  Lebensbegleiter". Erste Anfänge lassen sich bei Apples "Siri" und Googles "Now"  (sprachgesteuerte "Assistenten" in mobilen Geräten) bereits beobachten.  Wieder einmal geht es um die Beeinflussung von Kaufentscheidungen,  aber auch um die langfristige Bindung an das digitale Ökosystem des  jeweiligen Konzerns. Die Nutzer zu "besitzen",  ist der Heilige Gral der neuen Zeit. Eine möglichst tiefe Einbindung in die Dienste und  Angebote, besonders auf Mobiltelefonen, erhöht die  "Klebrigkeit" der jeweiligen Angebote und garantiert so einen  kontinuierlichen Umsatzstrom.

Textabschnitte für Lesung - 6. Gegner der Massenüberwachung:

Die Grundlagen der  Philosophie von Sicherheit durch vollständige  Erfassung aller  Lebensaspekte gehen auf das Bundeskriminalamt zu Zeiten  der RAF zurück.  Wenn man nur jeden Bürger und alle seine Aktivitäten  genügend gut  kenne, ließen sich durch Datenabgleich und intelligente  Algorithmen  Übeltäter schnell identifizieren und festsetzen. Das  Grundgesetz in  seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht  schiebt der  Bildung von Lebensprofilen durch den Staat gewisse Riegel  vor.  International, insbesondere im angelsächsischen Raum, sind solche   Schranken weitgehend unbekannt. Spätestens wenn es um die Bürger  anderer  Länder geht, wenn die Erfassung im immer undurchschaubarer  werdenden  Dickicht zwischen Polizei und Geheimdiensten stattfindet, die  nationalen  Gesetze durch internationale Kooperation und Arbeitsteilung  ausgehebelt  werden, ist es nicht mehr vermessen, vom digitalen  Überwachungsstaat zu  reden. 

Dabei  sind die Welten der privaten und staatlichen  Datenerfassung mitnichten  getrennt. Staatliche Stellen haben spätestens  bei Ermittlungsverfahren  relativ problemlos Zugang zu den Datenhalden  der Sozialen Netzwerke,  Mobilfunkunternehmen und Internetanbieter. Gern  werden diese  verpflichtet, Informationen für den Staat vorzuhalten, wie  etwa bei der  umstrittenen Vorratsdatenspeicherung und dem neuen Gesetz  zum  praktisch schrankenfreien Zugriff auf die Kundenregister der   Kommunikationsunternehmen. Im Gegenzug haben Staaten wenig Hemmungen,   Daten etwa aus den Melderegistern zu verkaufen oder ihre Mechanismen für die Durchsetzung privater Geschäftsinteressen, etwa der Musik- und Filmindustrie, zur Verfügung zu stellen. 

Die  gesellschaftlichen Mechanismen, die eigentlich für einen Interessenausgleich und eine Beschränkung von Machtkonzentration sorgen sollten, funktionieren angesichts des doppelten Angriffs auf die Privatsphäre durch Staat und Internet-Großkonzerne nicht mehr. Das fundamentale Recht, nicht alles von sich offenbaren zu müssen, seine Gedanken, Gefühle, Ansichten und Handlungen nicht einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt zu sehen, ist im Kern ein Schutzrecht des Einzelnen vor den Mächtigen. Die Kombination aus Sicherheitswahn und vom Gewinnstreben getriebenem Druck zur Änderung der sozialen Normen und Gepflogenheiten haben dieses Recht in wenigen Jahren in bisher unvorstellbarer Weise erodiert.


Gesamter Text:

http://www.bpb.de/apuz/157538/von-daten-und-macht-essay?p=all

Von Daten und Macht - Essay
Frank Rieger
3.4.2013

Die Debatten um Datenschutz und Privatsphäre haben in den vergangenen Jahren an Intensität und Breite gewonnen. Sie flammen an vielen Stellen auf, die zuvor noch gar nicht im  Blickfeld der Öffentlichkeit standen. Parallel dazu und gern auch  leichtfertig vermischt damit geht es um die Kontrolle des Staates und  großer Unternehmen durch mehr Transparenz. Die Konfusion ist  verständlich. Implizit argumentieren Behörden gerne damit, dass sich  sowieso alle im Internet entblößen. Deswegen solle man sich nicht so  haben, wenn der Staat auch noch ein paar Daten will. Die Reinform dieser  Ansicht findet sich etwa beim Vizepräsident des Bundeskriminalamts, der  gern postuliert, wer online sei, habe ohnehin sein Recht auf  Privatsphäre verwirkt.  Verbündete in dieser Weltsicht sind die großen Internetunternehmen, die  gerne so viel Daten horten, erfassen und speichern, wie sie können.  Zumindest bei den Unternehmen folgt dieser Drang einem klaren Ziel: Je  besser man den Menschen kennt, desto gezielter kann man ihn durch  Werbung zum Kauf von Produkten und Dienstleistungen anregen. 

Woher kommt nun aber diese allgegenwärtige Datengier? Für die  Internet-Konzerne ist die Frage relativ einfach zu beantworten. Nachdem  die erste Start-up-Blase mangels ausreichender Einnahmen der von den  Risikokapitalisten finanzierten Firmen platzte, musste ein neues  Paradigma für das Wirtschaften im Netz her. Die "revolutionäre" neue  Idee lässt sich in drei Worte fassen: Werbung – möglichst zielgerichtet.  Niemand machte sich ernsthafte Illusionen darüber, dass der Charakter  des Internets sich durch diesen Schwenk grundlegend ändern würde. Selbst  die Google-Gründer schrieben, lange bevor sie genau dieses Modell für  ihre eigene Firma einführten: "Eine werbefinanzierte Suchmaschine wird  unweigerlich die Werbetreibenden bevorzugen, nicht die Bedürfnisse der  Nutzer."  

Wenige Jahre später waren es Googles eigene Ingenieure, welche  die "Urmutter" aller gezielten Online-Werbung entwickelten. Die kleinen,  auf die jeweilige Suchabfrage abgestimmten Einblendungen von Werbelinks  – sogenannte adwords – sind noch ein relativ harmloses Beispiel  von zielgerichteter Werbung, das von den meisten Nutzern nicht als  störend empfunden wird. Ausgehend von dieser Basis wuchs jedoch in  kurzer Zeit die Menge und Vielfalt der Verfahren explosionsartig, um die  Nutzer besser auszuforschen, durchs Netz zu verfolgen und zu erahnen,  was ihre Bedürfnisse und Interessen sind.

Ende der Privatsphäre?

Faszinierenderweise scheint jedoch das Paradigma, dass immer  mehr Daten auch zu besseren Ergebnissen bei der Nutzermanipulation  führen, nur bis zu einem gewissen Punkt zu stimmen. Die Zufriedenheit  von Werbekunden, die hochgradig gezielte Kundenansprache ausprobiert  haben, ist gegenüber normaler oder nur sehr grob gezielter Werbung  verschiedenen Studien zufolge nicht unbedingt höher. Auch die magische  Einheit der Werbebranche, die "Durchklickzahlen" – also wie viele Nutzer  von Werbung zum Klicken motiviert werden –, weist keinen enormen  Vorteil für besonders zielgerichtete Werbung auf. Das hindert jedoch die  spezialisierten Dienstleister, die sich die immer bessere Ausforschung  des Netznutzers zum Geschäftszweck gemacht haben, nicht daran, ihre  Datenhalden stetig zu vergrößern. Sie folgen damit der Philosophie, die  Google und Facebook eingeführt haben: Wozu sollte man Daten wegwerfen  oder nicht erheben? Speicherplatz kostet doch nichts mehr. Und man weiß  ja nie, welche interessanten oder profitablen Korrelationen sich  irgendwann einmal aus den Beständen errechnen lassen. 

Der Boom der Sozialen Netzwerke und die damit einhergehende  Veränderung unserer Gewohnheiten und sozialen Normen in puncto  Öffentlichkeit, publiziertes Selbst, digitale Intimsphäre und Privatheit  ist also kein Zufall. Schon seit der Jahrtausendwende, also kurz  nachdem die Start-up-Blase platzte, begannen die führenden Köpfe der  digitalen Industrie, mit gezielter Propaganda gegen das Konzept  Privatsphäre zu Felde zu ziehen. Bereits 1999 sagte etwa Scott McNealy,  der damalige Chef des Computerkonzerns Sun: "You have zero privacy  anyway, get over it." Sun wurde später von Oracle gekauft, dem größten  Datenbank- und Auswertungssoftware-Anbieter. Larry Ellison, der Boss von  Oracle, sagte in einem Interview mit dem "Playboy": "Privacy is an  illusion." Dem erstaunten Journalisten erklärte er: "Trust me, your data  is safer with me than with you." Auch der ehemalige Google-Chef Eric  Schmidt ist ähnlicher Ansicht: "Wenn Sie etwas machen, von dem Sie nicht  wollen, dass es irgendwer erfährt – dann sollten sie es vielleicht gar  nicht erst tun." Und Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook,  deklarierte schließlich: "Privacy is no longer a social norm." 

Häufig wird von den Leuten, die am meisten daran verdienen, so  getan, als wäre es quasi Naturgesetz, dass der Verlust der Privatsphäre  eine unweigerliche Folge des Einsatzes von Computern und Netzen ist. Das  dahinter stehende Profitmotiv wird öffentlich ungern diskutiert. Wer  spricht schon über Geld, wenn es doch vordergründig um mehr Freiheit,  besseren Kontakt zu Freunden, um den Zugriff auf das Wissen der gesamten  Welt geht? Es ist schließlich auch vollständig unrealistisch, sich von  den Segnungen des digitalen Zeitalters abzukapseln und das Leben eines  Eremiten zu führen. Es ist jedoch essenziell, in den Debatten um die  Aushandlung der neuen sozialen Normen über die Hintergründe und die  Ziele der Akteure Bescheid zu wissen. Es geht nicht nur um Geld, es geht  auch um Macht.

Falsche Freunde

Daten sind Macht. Vielfach wird naiverweise so getan, als seien  Google, Facebook, Apple und Co. doch nur harmlose Unternehmen, die  niemandem etwas zuleide tun und einfach ein wenig Geld verdienen wollen.  Doch machen wir uns nichts vor: Die Vielfalt der Informationen über den  Einzelnen, seine Vorlieben, seine politische Einstellung, seine  Kommunikationspartner, sein Lebensumfeld, seine Partner und Freunde,  seine finanziellen Möglichkeiten, seine typischen Bewegungsmuster, seine  Ansichten zu grundlegenden moralischen und ethischen Fragen – all das  sind Informationen, die nicht umsonst seit Jahrhunderten von  Geheimdiensten und anderen Machtapparaten gesammelt werden. Dabei geht  es nicht unbedingt um die klassische Erpressbarkeit. Dieser Aspekt  bleibt meist staatlichen Geheimdiensten und von ihnen beauftragten  privaten Sicherheitsdienstleistern vorbehalten. 

Worum es den Internetkonzernen geht, ist das Leben des Einzelnen  für die selbstlernenden Algorithmen ihrer zukünftigen Produkte zu  erschließen. Der nächste große Schritt nach Suchmaschine, sozialem  Netzwerk und mobilen Applikationen ist der "intelligente  Lebensbegleiter". Erste Anfänge lassen sich bei Apples "Siri" und  Googles "Now" (sprachgesteuerte "Assistenten" in mobilen Geräten)  bereits beobachten. Wieder einmal geht es um die Beeinflussung von  Kaufentscheidungen, aber auch um die langfristige Bindung an das  digitale Ökosystem des jeweiligen Konzerns. Die Nutzer zu "besitzen",  ist der Heilige Gral der neuen Zeit. Eine möglichst tiefe Einbindung in  die Dienste und Angebote, besonders auf Mobiltelefonen, erhöht die  "Klebrigkeit" der jeweiligen Angebote und garantiert so einen  kontinuierlichen Umsatzstrom.  

Ganz nebenbei lässt sich eine große Anzahl von Nutzern unter den  richtigen Umständen und mit etwas Geschick auch in politische Macht  verwandeln. Googles erstes Experiment mit dieser Option – die Kampagne  "Verteidige Dein Netz", um die Einführung des umstrittenen  Leistungsschutzrechts in Deutschland zu verhindern – war zwar noch von  Unbeholfenheit und geringer Wirksamkeit geprägt. Ob das in Zukunft  anders aussieht, insbesondere wenn es um die Mobilisierung von Nutzern  gegen staatliche Regulierung geht, die weniger hanebüchen ist als das  Leistungsschutzrecht, wird genau zu beobachten sein. 

Die Härte der Debatten und Lobbyanstrengungen um die anstehende  europäische Datenschutznovelle zeigt einmal mehr, um welch große  Einsätze das Spiel geht. Die dringend notwendige Vereinheitlichung der  europäischen Datenschutzgesetzgebung wurde – wenig überraschend und  teilweise mit erheblicher Unterstützung von US-Behörden – von  interessierten Unternehmen dazu genutzt, stärkere nationale Standards,  wie etwa die deutschen, auszuhöhlen und zu verwässern. Argumentiert wird  dabei gern mit den angeblich gefährdeten Arbeitsplätzen und dem  vermeintlich drohenden Schaden für die globale  Wirtschaftsliberalisierung, sollten strengere Regulierungsmaßnahmen,  etwa stärkere Transparenzrechte der Nutzer oder Zweckbestimmungsgebote  für Daten, durchgesetzt werden. Zur Legende vom scheuen Reh des  Kapitals, das erschreckt davonspringt, sobald sich die lokalen  Steuerbedingungen ungünstiger gestalten, gesellt sich nun die Legende  vom scheuen Big-Data-Rehlein, das vor besserem Daten- und Nutzerschutz  Reißaus zu nehmen droht.

Kosten und Nutzen

Dabei wäre es an der Zeit, sich einmal grundlegend über die  Spielregeln im digitalen Zeitalter zu unterhalten. Das Problem dabei ist  jedoch, dass die Staaten, die traditionellen Träger zur Durchsetzung  von regulatorischen Maßnahmen, sich fest im Griff einer überbordenden  Sicherheitsideologie und der Lobbyinteressen einzelner Branchen,  besonders der Inhalteindustrie, befinden. Es ist zwar viel davon die  Rede, dass die europäischen und nationalen Institutionen und Behörden  einer Balance von Sicherheit und Freiheit verpflichtet seien. In der  Praxis stellen sich manche Politiker und Sicherheitsbehörden unter  Freiheit offenbar etwas ganz anderes vor als viele Bürger. Seit dem 11.  September 2001 ist eine Vielzahl von Überwachungsmaßnahmen eingeführt  worden, die zuvor eher mit totalitären Regimes assoziiert waren. Meist  wird versprochen, dass es sich um temporäre Maßnahmen handele, dass die  Daten aus Vorratsdatenspeicherung, biometrischer Erfassung für die  Reisepässe oder der Überwachung des Internetverkehrs ausschließlich für  die Terrorbekämpfung verwendet würden. Regelmäßig stellt sich dann nach  wenigen Jahren heraus, dass die Eingriffsbefugnisse wie  selbstverständlich ohne Überprüfung ihrer Wirksamkeit verlängert werden,  dass die Daten sich für eine effektive Terrorbekämpfung gar nicht  eignen und weitaus mehr erfasst und gespeichert wird, als ursprünglich  vorgesehen war. 

Diese Freude am Speichern und Auswerten folgt dem selben  Paradigma wie die Geschäftslogik der Internetkonzerne. Bei diesen  bezahlen wir mit unseren Daten für Dienste, die wir als nützlich  empfinden. Beim Staat zahlen wir mit unseren Daten für ein Versprechen  von mehr Sicherheit, in Zeiten, in denen in den meisten Ländern die  Haushalte für Polizeipersonal zusammengestrichen werden. Die Falschheit  dieses Prinzips lässt sich gut am Beispiel Kameraüberwachung  illustrieren. Kameras auf öffentlichen Plätzen sollten Kriminelle  abschrecken beziehungsweise dabei helfen, sie dingfest zu machen. In der  Praxis lässt sich jedoch keine ernsthafte Reduktion der Kriminalität in  kameraüberwachten Bereichen nachweisen. Die mittlerweile gut  untersuchten Effekte führen bestenfalls zu einer Verdrängung von  Kriminalitätsschwerpunkten in benachbarte, nicht kameraüberwachte  Bereiche. Kameras bringen nicht mehr Sicherheit, sie vermitteln  lediglich das Gefühl, dass "etwas getan wird". Gerade jugendliche  Gewaltkriminelle lassen sich kaum noch durch technische  Sicherheitsmaßnahmen abschrecken. Es werden sogar Fälle berichtet, in  denen Gewalttaten absichtlich in Bereichen ausgeführt werden, in denen  gefilmt wird. Die Täter hoffen dann, durch die Publikation der  Videoschnipsel im Rahmen der Fahndung nach ihnen, Ruhm und Anerkennung  bei ihren Freunden zu erlangen. 

Trotz der offensichtlichen Ineffizienz und Ungeeignetheit von  Überwachung und digitaler Erfassung zur Steigerung der tatsächlichen  Sicherheit und der Terrorbekämpfung werden höchst selten einmal  Überwachungsmaßnahmen zurückgenommen. Statt in mehr und besser  ausgebildetes Sicherheitspersonal zu investieren, wird lieber den  Verkaufsversprechungen der Sicherheitstechnikindustrie geglaubt, die  suggeriert, durch mehr und flächendeckendere Überwachung ließe sich auch  in Zeiten knapper Budgets das Sicherheitsniveau steigern. In der  Gesamtschau ergibt sich das Bild, dass wir als Allgemeinheit lieber mit  unseren Daten als mit unserem Geld für Sicherheit zahlen. Das Problem  ist nur, dass dieser Tausch nicht funktioniert. 

Es gibt keinen Automatismus, aus denen sich die zwingende Logik  konstruieren ließe, dass wir, wenn wir nur mehr Sicherheit wollen,  einfach etwas Freiheit aufgeben müssen und umgekehrt. Viele durchaus  effiziente Sicherheitsmaßnahmen sind entweder zu einfach und zu billig,  so dass niemand daran verdient, oder kontinuierlich teuer – wie etwa  mehr und qualifizierteres Personal – und würden damit erfordern, dass  wir als Gesellschaft tatsächlich Geld dafür ausgeben. Ein typisches  Beispiel ist die Sicherheit im Luftverkehr. Die mit großem Abstand  effizienteste Sicherheitsmaßnahme nach dem 11. September 2001 waren  nicht die überbordenden Sicherheitskontrollen, die bizarren Regeln über  die Mitnahme von Flüssigkeiten oder das ausufernde Erfassen und  intransparente Verarbeiten von Fluggastdaten. Wirklich mehr Sicherheit  brachte die relativ einfache Einführung von Cockpittüren, die nicht ohne  Weiteres von einem Angreifer überwunden werden können. Diese Maßnahme  wurde jedoch erst nach langen, hinhaltenden Diskussionen realisiert. Der  Grund ist das höhere Gewicht von gepanzerten Türen und der Aufwand des  Einbaus – beides reduziert den Profit der Fluggesellschaften. Und diese  effiziente Sicherheitsmaßnahme ist relativ unauffällig, sie führt nicht  zu einem Gefühl von "es wird etwas getan". Stattdessen wurde ein immer  elaborierteres Sicherheitstheater an den Flughäfen installiert, so dass  Fliegen mittlerweile von einer angenehmen Transportart zu einem  entwürdigenden Spießrutenlauf durch Sicherheitskontrollen mit  Nacktscannern und sinnlosen Restriktionen geworden ist. 

Die Grundlagen der Philosophie von Sicherheit durch vollständige  Erfassung aller Lebensaspekte gehen auf das Bundeskriminalamt zu Zeiten  der RAF zurück. Wenn man nur jeden Bürger und alle seine Aktivitäten  genügend gut kenne, ließen sich durch Datenabgleich und intelligente  Algorithmen Übeltäter schnell identifizieren und festsetzen. Das  Grundgesetz in seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht  schiebt der Bildung von Lebensprofilen durch den Staat gewisse Riegel  vor. International, insbesondere im angelsächsischen Raum, sind solche  Schranken weitgehend unbekannt. Spätestens wenn es um die Bürger anderer  Länder geht, wenn die Erfassung im immer undurchschaubarer werdenden  Dickicht zwischen Polizei und Geheimdiensten stattfindet, die nationalen  Gesetze durch internationale Kooperation und Arbeitsteilung ausgehebelt  werden, ist es nicht mehr vermessen, vom digitalen Überwachungsstaat zu  reden. 

Dabei sind die Welten der privaten und staatlichen  Datenerfassung mitnichten getrennt. Staatliche Stellen haben spätestens  bei Ermittlungsverfahren relativ problemlos Zugang zu den Datenhalden  der Sozialen Netzwerke, Mobilfunkunternehmen und Internetanbieter. Gern  werden diese verpflichtet, Informationen für den Staat vorzuhalten, wie  etwa bei der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung und dem neuen Gesetz  zum praktisch schrankenfreien Zugriff auf die Kundenregister der  Kommunikationsunternehmen. Im Gegenzug haben Staaten wenig Hemmungen,  Daten etwa aus den Melderegistern zu verkaufen oder ihre Mechanismen für  die Durchsetzung privater Geschäftsinteressen, etwa der Musik- und  Filmindustrie, zur Verfügung zu stellen. 

Die gesellschaftlichen Mechanismen, die eigentlich für einen  Interessenausgleich und eine Beschränkung von Machtkonzentration sorgen  sollten, funktionieren angesichts des doppelten Angriffs auf die  Privatsphäre durch Staat und Internet-Großkonzerne nicht mehr. Das  fundamentale Recht, nicht alles von sich offenbaren zu müssen, seine  Gedanken, Gefühle, Ansichten und Handlungen nicht einem permanenten  Rechtfertigungsdruck ausgesetzt zu sehen, ist im Kern ein Schutzrecht  des Einzelnen vor den Mächtigen. Die Kombination aus Sicherheitswahn und  vom Gewinnstreben getriebenem Druck zur Änderung der sozialen Normen  und Gepflogenheiten haben dieses Recht in wenigen Jahren in bisher  unvorstellbarer Weise erodiert.

Missbrauchspotenzial

Die Risiken für die freiheitliche Gesellschaft und die freie  politische Willensbildung sind alles andere als abstrakt. Insbesondere  in Ländern mit gering ausgeprägten demokratischen Traditionen sind die  drastischen Auswirkungen des uferlosen Zugriffs auf digitale  Lebensspuren zu beobachten. Denn während flächendeckende Datenerfassung  und Bürgerausforschung kaum geeignet sind, Kriminalität einzudämmen,  sind sie ganz hervorragend geeignet, um politische Opposition zu  unterdrücken. Soziale Netzwerke in ihrer derzeitigen technischen  Struktur liefern die Daten, für die ein Geheimdienst früher noch hart  arbeiten musste, wohlstrukturiert frei Haus. Wie sich oft gezeigt hat,  ist den großen Anbietern der Zugang zu undemokratischen Märkten  wichtiger als der Schutz verfolgter Oppositioneller. Selbst wenn die  Firmen nicht kooperieren, ist es durch technische Überwachungsmaßnahmen  oft ein Leichtes, die entscheidenden Strukturinformationen über  oppositionelle Gruppen zu erlangen. Die dafür notwendige Technologie zur  Netzwerküberwachung und Infiltration von Computern mit staatlichen  Trojanern wird von westlichen Ländern problemlos auch an die  widerlichsten Regimes geliefert. 

Wie die Geschehnisse im Fall Wikileaks überdeutlich zeigten, ist  aber auch in westlichen Demokratien der Lack der Zivilisation dünn.  Privatunternehmen wurden zu Ausforschungsgehilfen und Hilfspolizisten  gemacht, Zahlungsströme durch außergesetzlichen politischen Druck  unterbunden, Geheimdienst- und Polizeimethoden verschwammen zu einem  ununterscheidbaren Kontinuum. Davon auszugehen, dass die Entwicklung der  privat-staatlichen Überwachungsgesellschaft, in der der kritische  Bürger sich schon allein durch sein Begehren nach Privatsphäre  verdächtig macht, ohne Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung  bleiben wird, wäre naiv. Big Data stellt eine Verschiebung von Macht weg  vom Individuum hin zu de facto unkontrollierbaren und intransparenten  Strukturen dar, die es so noch nicht gegeben hat. 

Mechanismen, um diese Machtballungen transparent und damit  kontrollierbar zu machen, sind weitgehend dysfunktional. Das deutsche  Informationsfreiheitsgesetz, das eigentlich dazu gedacht ist,  staatliches Handeln durch Bürger überprüfbar zu machen, ist zahnlos und  ineffizient. Gerade an den kritischen Stellen, wenn es um Innen- und  Sicherheitspolitik geht, sowie bei der Zusammenarbeit von Staat und  Unternehmen wimmelt es von Ausnahmeklauseln. Geschäftsgeheimnisse der  beteiligten Unternehmen und die Geheimnisse der Sicherheitsbehörden  dienen auch in den absurdesten Fällen als Ausrede, um dem Bürger keinen  Einblick in das Handeln der Verwaltung zu gewähren. 

Die Großunternehmen der digitalen Branchen sind noch weniger zu  durchschauen. Selbst die rudimentären Bestimmungen des  Datenschutzrechts, die ein Minimum an Einblick durch den Bürger  sicherstellen sollen, werden routinemäßig unterlaufen. Kritische  Datensammlungen werden im Ausland angelegt, das Primat der  Geschäftsgeheimnisse gegenüber dem Einblicksrecht der Betroffenen  betont, um Transparenz so weit wie möglich zu vermeiden. Die  Auskunftsportale gerade der Branchenriesen sind eher ein schlechter  Scherz, da über die kritischen Datenzusammenführungen und die  Interpretationen aus den Daten nicht informiert wird. Niemand weiß  wirklich, was Google und Facebook mit unseren Daten tun. 

Das traditionelle System des Interessenausgleichs und der  Kontrolle von Macht durch Transparenz und Kartellregulierungen in den  westlichen Demokratien hat hier in einem Ausmaß versagt, das nur schwer  wieder zu reparieren sein wird. Zu groß sind die Profitinteressen auf  der einen Seite und der staatliche Drang nach Kontrolle mit seiner  Rechtfertigung durch das Primat der Sicherheit auf der anderen. 

Das derzeitige Modell staatlicher Netzregulierung, bei dem jede  Überlegung von den Interessen der Sicherheitsbehörden und ihren endlosen  Kontrollforderungen durchdrungen ist, ist vollständig ungeeignet, wenn  es um das Aufstellen sinnvoller Regeln für das digitale Zeitalter geht.  Völlig zu Recht runzeln Aktivisten und Bürgerrechtler sorgenvoll die  Stirn, wenn ein Minister wieder verbindliche Regeln für das Internet  fordert. Solange ganz grundlegende Freiheitsrechte im Netz, wie etwa das  Recht auf Anonymität, das Recht auf unzensierte Kommunikation und das  Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer  Systeme – die digitale Intimsphäre – nicht allgemein anerkannt und in  der Praxis relevant sind, ist bei jedem staatlichen Regulierungsversuch  ein Angriff auf genau diese Freiheitsrechte zu erwarten. Solange der  Sicherheitsapparat nicht von seiner "Von der Wiege bis zur  Bahre"-Ideologie abweicht, solange bei jedem Ansatz für Netzregeln harte  Partikularinteressen berücksichtigt und fragwürdige Moraldiktate wie  etwa ein Pornografieverbot versucht werden, führen die traditionellen  Regulierungsmethoden eher zu einer Verschlimmbesserung. Es braucht hier  einen neuen Ansatz für eine gesellschaftliche Verständigung und  möglicherweise auch neue, basisdemokratische Institutionen, die in  entfernter Analogie zum außerstaatlichen Grundgedanken der  öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten neue Wege beschreiten und  ermöglichen.

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bpb APuZ 15-16/2013 (gut zum Verdeutlichen des Missbrauchpotentials und auch warum jeder Einzelne betroffen ist - M.; ich finde den Text auch sehr gut, insb. in Hinblick auf den Wert der Privatsphäre zur Einhegung von Macht - V.)

Zusammenfassung und Bewertung von Thorsten: