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sid-lesung-texte-FK-3 Staatliche Überwachung - Befallen vom Überwachungsvirus                
Von Friedemann Karig
http://www.deutschlandfunk.de/staatliche-ueberwachung-befallen-vom-ueberwachungsvirus.1184.de.html?dram:article_id=307639

Daten dienen zur Gesellschaftssteuerung               
              
Wie Facebook in einem viel beachteten Experiment im  Frühjahr 2014 nachwies, lassen sich Einstellungen, Emotionen und damit letztlich auch Verhalten von ganzen Gesellschaften umso leichter steuern, je mehr Zugriff man auf ihre Daten und Kommunikation hat. Dieses "behavorial nudging", zu deutsch etwa Verhaltensanstoßen, ist mithilfe weitreichenden Datenzugriffs der wahr gewordene Traum der Kybernetik, der Wissenschaft von der Steuerung komplexer Systeme. Wie  die Hebel dieser sozialen Physik missbraucht werden können, vermag man sich heute noch nicht auszumalen. Viele westliche Regierungen wie  beispielsweise die britische unter David Cameron beschäftigen seit Jahren Psychologen aus diesem Bereich. Das Vertrauen, dass staatliche Stellen diese manipulativen Instrumente, die im digitalen eine immense Hebelwirkung entfalten können, nur zu unserem Wohl einsetzen, ist längst erschüttert. Sascha Lobo schrieb dazu:
              
"Wer ganze Länder vollständig ausforscht, wer Millionen hosenloser Bürger ohne jeden Verdacht heimlich per Webcam fotografiert, wer mit absurd hoher Fehlerquote Daten sammelt, um namentlich nicht bekannte, vermeintliche Vielleichtterroristen samt Umstehender per Drohne zu ermorden - der schreckt vor nichts zurück."
              
Wie sollen angesichts dieser monströsen neuen Möglichkeiten ehemals mächtige, nun aber hoffnungslos überholte Dystopien wie "1984", "Brave New World" oder auch "Das Leben der  Anderen" noch wirken? Dringend brauchen wir neue Geschichten. Und als Vorstufe müssen wir zuerst die alten Narrative, die fünf großen Ausreden erledigen.
              
Als allererstes: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. Dieser Mythos impliziert, dass ein juristisch unbescholtener Bürger von Überwachung keinen Schaden, sondern nur Nutzen hat. Er setzt totales Vertrauen in die Obrigkeit, und schreitet damit zurück in vormoderne Zeiten. Nicht umsonst wird unsere Strafverfolgung  und Rechtsprechung von vielen "Checks and Balances" abgesichert. Der Staat ist keine fehlerfreie Maschine, sondern ein komplexes Gebilde aus irrigen Menschen, die jeweils eigene Agenden verfolgen. Deshalb hat fast jeder Bürger schon einmal einen Irrtum der Staatsmacht, eine falsche Anschuldigung, ein zu hohes Bußgeld, einen irrenden Beamten erlebt. Die Fallhöhe dieser Fehler muss stets begrenzt bleiben. Es braucht keine Diktatur für einen Missbrauch von staatlicher Macht. Auch in Demokratien finden sich Beispiele für missbräuchliche Verwendung der Daten. Wie in Italien, wo ein kriminelles Netzwerk unter Beteiligung von Geheimdienstmitarbeitern zahlreiche prominente Persönlichkeiten erpresst haben soll. Aus den USA sind Fälle belegt, in denen NSA-Mitarbeiter die  Überwachungsinstrumente nutzten, um Personen in ihrem privaten Umfeld auszuspionieren.
              
Hinzu kommt: Jeder Mensch hat etwas zu verbergen. Geheimnisse haben und brauchen wir alle. Nackt zu sein, körperlich wie psychologisch, ist heute nicht mehr natürlich. Verbergen hingegen ist menschlich. Nur Narzissten mit einem ungesunden Verhältnis zur  Öffentlichkeit machen sich komplett öffentlich. Wir anderen verschweigen instinktiv vieles über uns: Einkommen, Krankheiten, Vorlieben, Liebschaften. Selbst den bravsten Spießbürger träfe eine  Veröffentlichung dieser privaten Routinen ins Mark. Das gesammelte Wissen über eine Person verleiht auch dann Macht über diese, wenn keine justiziablen Geheimnisse darin stecken. Jeder ist erpressbar.
              
Und: Was heute harmlos erscheinen mag, kann morgen lebenswichtiges Geheimnis werden. So hatten die Niederlande in den 1930er-Jahren umfangreiche Bevölkerungsregister aufgebaut, in denen auch die Religionszugehörigkeit erfasst war. Diese Akten wurden 1939 von der Gestapo sichergestellt und ausgewertet. Als Ergebnis hatten die niederländischen Juden mit 73 Prozent die höchste Todesrate von allen Juden in den besetzten Ländern Westeuropas.
              
Wissen ist Macht. Und Wissen über den Einzelnen ist Macht über den Einzelnen. Wer darf diese Macht haben? Soll man einem Nachrichtendienst vertrauen, der nicht einmal die eigene Bundeskanzlerin schützen kann?
              
Über allen Missbrauchsszenarien steht die sogenannte Schere im Kopf: Wenn alle überwacht werden und alle Angst davor haben, auffällig zu werden, verarmt eine Gesellschaft geistig und emotional. Die Meinungsfreiheit fällt einer inneren, vorauseilenden Zensur zum Opfer.

Man muss Geheimes verbergen dürfen               
              
In einer Demokratie ist also nicht wichtig, ob man etwas Geheimes zu verbergen hat, sondern dass man es grundsätzlich darf. Sonst ist es keine Demokratie.
              
Zweitens: Die vermeintliche Existenzberechtigung der Überwachung, ihr raison d'être, ist der Terrorismus, der uns ständig  bedroht.
              
Glücklicherweise blieb Deutschland bisher von Terroranschlägen verschont. Wir können ohne kollektives Trauma analysieren, wie groß die Gefahr wirklich ist - und ob Überwachung dagegen hilft. Rein statistisch gesehen starben in England von 2000 bis 2010 pro Jahr an folgenden Ursachen diese Anzahl Menschen:
              
              
Der Politikwissenschaftler Andreas Busch schreibt dazu:
"Als objektive Gefahr ist der Terrorismus als Todesursache schon immer statistisch unbedeutend gewesen, darüber herrscht in der Literatur Einigkeit."
              
Terror ist leider real. Seine Bedrohung für unser Leben wird jedoch übertrieben. Das Problem liegt zudem nicht in einem Mangel an Informationen, sondern in einem Mangel an sinnvoller Analyse. Man denke nur an den Rechtsterrorismus des NSU, dessen Verhinderung tragischerweise an vielem scheiterte, aber nicht an einem Mangel an Informationen.
              
So hat etwa eine umfangreiche Analyse der New America Foundation gezeigt, dass von 229 identifizierten Terrorverdächtigen in den USA seit dem 11. September 2001 gerade einmal 18 (also 7,8 Prozent) auf Basis der erweiterten NSA-Massenüberwachungsbefugnisse entdeckt wurden. Der mit Abstand größte Teil der Verdächtigen (60 Prozent) wurde durch traditionelle Ermittlungsmethoden wie Informanten und routinemäßige Polizeiarbeit identifiziert.
              
Das Supergrundrecht Sicherheit mit der vermeintlichen Dichotomie zwischen Sicherheit und Freiheit ist also eine Täuschung. Doch seine Prediger sind in der politischen Überzahl. Denn es lohnt sich für einen Innenminister immer eher zu überwachen, als nicht zu überwachen. Passiert etwas, und er hat nicht überwacht, wird man ihm das vorwerfen. Passiert nichts, war die Überwachung dennoch richtig, hat vielleicht sogar erst Schlimmeres verhindert. Dass Überwachung sicher macht, gilt also nur für den Job des Überwachers.
              
Wir sind jedoch nicht besser: So lange es die anderen trifft und uns eventuell schützt, ist uns fast jedes Mittel Recht. Wir müssen uns aber klar machen: Wir, die Überwachten, sind weder sicher noch frei. Die Umkehr der Unschuldsvermutung macht uns alle zu Verdächtigen. Früher oder später bedeutet eine Stärkung des Sicherheitsstaates nicht mehr, sondern konkret weniger Sicherheit.

Metadatensammlung ist nicht harmlos               
              
Dritte Ausrede: Eine weitere Schutzbehauptung der Überwacher ist die von der Harmlosigkeit der gesammelten Metadaten. Der BND hatte im Zuge des NSA-Untersuchungsausschusses sogar die Chuzpe, Metadaten als nicht personenbezogene Daten jenseits der sie schützenden Gesetze zu stellen.
              
Forscher der Universität Stanford testeten die Macht dieser Informationen: Per Überwachungsapp wurden nur Metadaten von Freiwilligen gesammelt, wie bei einer sogenannten Vorratsdatenspeicherung. Neben tödlichen Herzkrankheiten und Alkoholsucht ihrer Probanden fanden die Forscher auch heraus, dass eine junge Frau mehrmals lange mit ihrer Schwester telefonierte, daraufhin etwas kürzer mit einer Abtreibungsklinik, von der aus sie eine Woche später ihre Mutter anrief. Was sie dort wohl tat?
              
Metadaten sind nicht weniger schlimm als andere Daten. Weder in ihrer Aussagekraft noch in ihren Konsequenzen: "We kill people based on metadata", sagte Michael Hayden, ehemaliger Direktor der CIA, über das Drohnenprogramm der USA.
              
Dabei sind die Datenkraken aus dem Silicon Valley die wahren Feinde, ihnen geben wir die Daten gar freiwillig! So mahnen besonders diejenigen, deren Branchen von den Netzkonzernen bedroht sind. Und Politiker, die vom Geheimdienstskandal ablenken wollen.
              
["Das Paradoxon des Internet ist, dass alle über mangelndes Vertrauen klagen, und doch hemmungslos bei Facebook posten", schrieb CDU-Netzpolitiker Thomas Jarzombek kürzlich auf Twitter. Darin steckt das Missverständnis, dass vor allem junge Leute ihr ganzes Leben, also unverantwortlich viele Daten, freiwillig ins Netz kippen würden, und damit quasi datenvogelfrei wären.
              
Facebook gilt als Datenkrake. Sicher sammeln die Internetgiganten massenhaft Informationen, können sie missbrauchen oder an die Geheimdienste weitergeben, so wie sie es offenkundig bis heute tun. Sicher muss man darüber nachdenken, wie man sie in ihre Schranken weist. Womöglich auch, indem man sie nicht mehr nutzt. Oder nur eingeschränkt. Die allermeisten Menschen stellen beileibe nicht ihr komplettes Leben, sondern ein genau gefiltertes  ideales Abbild ins Netz. Die Geheimdienste jedoch haben Zugriff auf alle  Daten, und niemand kann sich entscheiden, die NSA oder den BND nicht mehr zu nutzen. Zudem kann die Staatsgewalt aufgrund dieser Daten ihr  Gewaltmonopol ausüben, sprich mich ins Gefängnis stecken, während Google und Co. mir nur unpassende Werbung schicken.] -> könnte raus
              
Als Kunde habe ich eine Entscheidung. Als Bürger nicht. Der Staat hat jede Entscheidung über mich. Google nicht. Wer das verschweigt, betreibt eine gefährliche Relativierung staatlicher Überwachung.
              
Und dann wäre da noch das Narrativ, das in jedem Diskurs, in jeder politischen Problematik durchscheint: Resignation.
              
Wir müssen uns angesichts der Überwachungsattacken daran erinnern, was der Philosoph John Locke vom Staat dachte: Der Staat dient uns. Er ist ein Vertrag mit uns selbst, dessen Inhalte wir  bestimmen. Verstößt er dagegen, müssen wir ihn zügeln.
              
Oder lässt man sich horrende Steuererhöhungen gefallen? Raffgierige Finanzämter? Willkürliche Polizisten? Nein. Wieso dann außer Kontrolle geratene Geheimdienste?
              
Die Müllabfuhr, ebenso von unseren Steuern finanziert, kommt nur, wenn wir es ihr sagen. Und holt den Müll ab, statt ihn zu durchwühlen. Wir müssen die Geheimdienste als das erkennen, was sie  sind: Instrumente. Oder, martialischer: Waffen. Zeit für Abrüstung.
              
[Vor über 30 Jahren schaffte es schon einmal eine Bewegung in Deutschland, Überwachung abzulehnen. Rund 600.000 Befragte, damals fast ein Prozent der Bevölkerung, boykottierten 1983 die landesweite Volkszählung und machten sich strafbar, indem sie ihre Fragebögen einfach nicht abgaben. Das und unzählige Verfassungsklagen, Artikel und Demonstrationen machten es der Regierung unmöglich, an ihren Plänen festzuhalten. Der Virus der Überwachung war vorerst gestoppt.] -> könnte raus, kommt im GG-Text
              
Erster Schritt der Genesung heute: Statt böser Ausreden sollten wir Klartext sprechen.
              
Überwachung macht krank wie ein Virus. Überwachung  macht verletzlich - den einzelnen wie die Gesellschaft. Überwachung  macht kaputt - nämlich unsere Gemeinschaften und unsere Demokratien. Überwachung macht dumm, weil wir uns nicht mehr ehrlich austauschen, sondern - wie das vierte Kind in der Studie - lieber lügen, als aufzufallen. Überwachung macht primitiv, weil wir in Selbstverteidigung statt Kooperation zurückfallen. Überwachung macht unfrei und ohnmächtig, weil der einzelne keine Macht gegen den Überwacher hat, der aber schon über ihn. Überwachung ist unmenschlich, denn sie treibt uns zurück in die Herde.