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sid-lesung-texte-FK-2 Staatliche Überwachung  Befallen vom Überwachungsvirus (ab "Suche nach Impfstoff gegen Überwachungsvirus" bis vor "Jede Bewegung wird zu Daten")
Von Friedemann Karig
http://www.deutschlandfunk.de/staatliche-ueberwachung-befallen-vom-ueberwachungsvirus.1184.de.html?dram:article_id=307639


Suche nach Impfstoff gegen Überwachungsvirus

Wir müssen also auf der Suche nach einem argumentativen Impfstoff vielleicht noch einen Schritt zurücktreten. Denn auch wer niemals konkretes Überwachungsopfer wird, wer nicht in einer wie auch immer gearteten Dystopie lebt, hat etwas zu befürchten: die Schere im Kopf, wissenschaftlich auch "Chilling Effect" genannt.

Dieses psychologische Momentum, das auch als Selbstbeschränkung oder vorauseilender Gehorsam definiert ist, wurde zum ersten Mal 1975 nachgewiesen. In einer Studie namens "The Chilling Effects of Surveillance: Deindividuation and Reactance" [zu deutsch: Der Abkühlungseffekt von Überwachung] wurden Studenten zur Legalisierung von Marihuana befragt. Damals waren die Meinungen hierzu etwa 50:50 verteilt. Der Konsum wurde jedoch mit Gefängnis bestraft.

Das Ergebnis: Je eher die Probanden sich überwacht fühlten, beispielsweise durch eine Videokamera oder Zuschauer, desto weniger gaben zu, für die Legalisierung zu sein. Aus Angst vor Konsequenzen verhielten sie sich vermeintlich konform. Es bestätigte sich eine Deindividualisierungsthese: Fühlen wir uns überwacht, versuchen wir uns in der Herde zu verstecken. Wir orientieren unser Verhalten an dem unserer Umwelt, sprechen eher in der dritten als ersten Person, schränken Körpersprache und Mimik ein. Und: Je stärker überwacht, desto aggressiver, unwilliger und kälter wurden die Probanden gegenüber der Studie und den Ausführenden. Das Fazit der Forscher lautete schon damals: Überwachung ist eine psychologische Verletzung der Meinungsfreiheit.

Diese Ergebnisse wurden mehrmals bestätigt und aktualisiert. Nutzer in elf Ländern - darunter die USA und Deutschland - suchen seit den Snowden-Enthüllungen signifikant weniger nach intimen und potenziell politisch riskanten Begriffen wie beispielsweise Abtreibung oder Explosion. Sie kühlen im Sinne des Chilling Effects ihre Kommunikation ab. Sie haben die Schere im Kopf.

In einer zweiten wichtigen Studie zum Konformitätsdruck wurde jeweils vier vierjährigen Kindern das Bild eines Tieres gezeigt. Einem Kind davon ein anderes Bild als den ersten dreien. Das vierte Kind, das sich selbst in der Minderheit sieht, lügt bei der Abfrage der Bilder ganz bewusst, um sich nicht von den anderen abzuheben. Je öffentlicher und überwachter seine Antwort, desto unehrlicher wird es.

Ohne ganz ähnlich klingende Erfahrungen von Zeitzeugen eines Überwachungsstaates wie der ehemaligen DDR heranzuziehen, lernen wir: Überwachung macht uns konformistisch, ängstlich, aggressiv und depressiv. Es ist bewiesen, dass Überwachung messbaren, merkbaren, objektiven Schaden an der geistigen Gesundheit des Einzelnen und der sozialen Atmosphäre der Gemeinschaft verursacht. Von ihrem Missbrauchspotenzial ganz zu schweigen.

Und genau deswegen hat das Bundesverfassungsgericht schon 1999 erkannt:
"Die Befürchtung einer Überwachung kann schon im Vorfeld zu einer Befangenheit in der Kommunikation, zu Kommunikationsstörungen und zu Verhaltensanpassungen, hier insbesondere zur Vermeidung bestimmter Gesprächsinhalte oder Termini, führen."

Heute leben wir in einem anderen, einem digitalen Zeitalter. Der Treibstoff aller digitalen Systeme sind Daten. Daten sind definiert als aufgezeichnete Unterscheidungen. Eins oder null. Sie oder ich. Schuldig oder unschuldig.