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sid-lesung-texte-FK-1 Staatliche Überwachung Befallen vom Überwachungsvirus        
Von Friedemann Karig
http://www.deutschlandfunk.de/staatliche-ueberwachung-befallen-vom-ueberwachungsvirus.1184.de.html?dram:article_id=307639

Die Überwachungen durch staatliche Organe im Internet machen krank, meint Friedemann Karig in Essay und Diskurs. Sie wirken genauso wie ein Virus, gegen den sich die Bürger schützen müssen - und können. Es komme darauf an, die Wunder des Netzes zu nutzen, um seine Rettung voranzutreiben.
Stellen wir uns für einen Moment vor, Überwachung wäre ein Virus. Eine gefährliche Krankheit, von einer Regierung gegen fremde oder gar ihre eigenen Bürger eingesetzt, mit furchtbaren Auswirkungen.
Was wäre die Folge? Statt einer trägen Gleichgültigkeit befiele uns kollektives Entsetzen. Auf den Straßen marschierten Demonstranten, die Börsen stürzten ab, der Notstand wäre nah. Zum Glück ist Überwachung kein Virus. Zum Glück ist es nicht so schlimm.
Oder nein: Es ist viel schlimmer. Wir merken es nur noch nicht.
Denn 

..Anlasslose Massenüberwachung, wie sie Geheimdienste heute ausüben, wirkt auf uns und unsere Demokratien genau wie eine Krankheit. Sie macht uns schwach. Wie ein Virus steckt sie einen nach dem anderen an. Die Analogie stimmt bis ins Detail: 

Entfesselte Geheimdienste, eigentlich dazu da, uns und unsere Werte zu verteidigen, sind wie eine Autoimmunerkrankung, bei der sich das Immunsystem gegen den Organismus wendet, den es schützen soll. Höchste Zeit, das Virus unters Mikroskop zu legen. Und mit den Mitteln des missbrauchten Netzes einen ebenso viralen Impfstoff zu entwickeln: neue, mächtige Argumente, Metaphern und Geschichten gegen Überwachung. Bevor es zu spät ist.

Bis heute wissen wir aus den Enthüllungen des ehemaligen NSA-Agenten Edward Snowden, dass amerikanische und britische Geheimdienste Überwachungsprogramme betreiben, die ihnen per Mausklick den Zugriff auf quasi alle verfügbaren digitalen Daten jedes Menschen der Welt ermöglichen. Keine Mail, kein Netzwerk, kein Smartphone ist vor diesem Zugriff sicher. Kein Gericht, keine Aufsicht zügelt ihn. Wir wissen, dass auch der BND auf vielerlei Arten unsere Grundrechte bricht, indem er mit anderen Diensten wie auf einem Basar unsere persönlichsten Geheimnisse tauscht und verkauft - oder ihnen direkt Zugang zu den Leitungen des Frankfurter Internetknoten gewährt.

Die Geheimdienste - mächtige Staaten im Staat - leben dank digitaler Möglichkeiten und hunderter Milliarden Steuergelder eine Überwachungsmanie aus, wie sie die Menschheit noch nicht kannte. Unsere Politiker haben diese wahnwitzigen Grundrechtsbrüche über Jahre und Jahrzehnte mitgetragen, mitgewusst oder mindestens beflissen weggeschaut. Und sie tragen heute, da Totalüberwachung nicht mehr als Verschwörungstheorie abzutun ist, die "Überwachung mit Fassung", wie Bundestagspräsident Norbert Lammert, protokollarisch der zweite Mann im Staat, es noch 2014 im Plenum ausdrückte.

Warum stürzen darüber, wie der FDP-Politiker Gerhard Baum fragte, keine Regierungen? Warum trat die ADAC-Führung zurück wegen gefälschter Auto-Rankings, aber kein Politiker wegen der NSA-Enthüllungen? Hat uns das Virus der Überwachung schon geschwächt, politisch paralysiert?
Unsere Passivität gründet sicherlich, wie bei vielen digitalen Themen, im sogenannten "Cultural Lag", deutsch: "Kulturelle Phasenverschiebung". Der Fortschritt lässt uns ratlos zurück. Weil wir noch halbe Affen sind, die Welt aber schon Science Fiction, kommen wir geistig nicht mit.

Andererseits lähmt uns das Überwachungsvirus, eben weil es noch nahezu unsichtbar ist. Weil es uns zwar befallen hat, wir seine zersetzende Wirkung jedoch noch nicht am eigenen Leib spüren. Weil die Opfer der Überwachung meist weit weg sind, namenlos, rechtlos.

Vor allem aber schwächen uns die Ausreden und Verharmlosungen, die den Überwachungsdiskurs leider regieren. Neben dem notorischen "Ich habe ja nichts zu verbergen" der ewig Gleichgültigen zählt dazu vor allem die vermeintliche Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit, die Ex-Innenminister Friedrich in sein berüchtigtes "Supergrundrecht Sicherheit" steigerte. Dazu die Mär, man sammle nur Metadaten, also keine Kommunikationsinhalte und damit nichts Intimes. Eine weitere gefährliche Relativierung staatlicher Überwachung zeigt sich in der sehr deutschen Kritik an Facebook, Google und Co. Diese sogenannten Datenkraken sammelten ja nicht nur ebenso viele Daten wie die Geheimdienste, sondern bekämen sie von uns Konsumenten gar freiwillig.

Und dann ist da natürlich noch die Resignation, die in jedem Diskurs, in jeder politischen Problematik irgendwann um sich greift: Man könne ja eh nichts machen. Geheimdienste seien nun mal obskur, und die USA in ihrem Sicherheitswahn unbeeinflussbar.

Sediert von diesen Ausreden protestierten 2013 in einer Petition der ehemaligen Piraten-Politikerin Anke Domscheit-Berg 60.288 Menschen gegen die NSA-Überwachung. Aktivierung funktioniert also, aber die gerne dazu benutzten Begriffe sind oft stumpf. Welche Schlagworte fallen, wenn wir von digitaler Souveränität reden? Datenschutz, das klingt nach Adresslisten in grauen Leitz-Ordnern oder wie Artenschutz, als wären die Daten vom Aussterben bedroht.
Privatsphäre klingt nach dem Mindestabstand zum Postschalter, nach einem räumlich definierbaren Konzept, von der digitalen Realität längst überholt. In einer Welt, in der wir von der Dateninflation profitieren und selbst lustvoll Daten rausschleudern, eine gewisse Datenpreisgabe als Geschäftsmodell des Netzes bewusst dort akzeptieren, wo sie uns nutzt, klingt das Heilsversprechen einer fest definierten Privatsphäre absurd. Und auch der gläserne Bürger, vor dem oft gewarnt wird, ist eine schiefe Metapher, weil man durch den gläsernen Bürger ja hindurchschauen und nicht in ihn hineinschauen könnte.

Dazu waren wir Menschen immer schon ein wenig einsehbar, sind Überwachung und Kontrolle gewöhnt. Ihre Geschichte reicht weit zurück: vom allsehenden, strafenden Gott über seine irdische Überwachungstechnik der Beichte bis hin zu Gesundheitsdaten auf Chipkarten.